Es ist schon witzig, wie schnell man Kunden nur wegen optischer Merkmale eingeordnet hat, noch bevor sie die Glastür zum Laden ganz öffnen konnten.
Noch witziger ist, dass man dabei mit wenig Übung schnell nah an die 100%-Trefferquote ran kommt und eigentlich immer vorher schon weiß, wie die Frage des Kunden lauten wird.
Ok, das ist so natürlich übertrieben. Eine grobe Einteilung der Kunden passiert aber wirklich auf den ersten Blick - ob gewollt oder nicht. Schön ist 's, wenn man sich dabei mal total irrt, aber erschreckend oft trifft das Vorurteil dann doch zu - mal ganz exakt, mal nur nah dran. Diese Vorauswahl erfüllt nebenbei auch einen sehr substanziellen Zweck für mich: "Will der Kunde zu mir oder will er in die Notenabteilung? Bekomme ich was zu tun oder kann ich endlich mal eine rauchen gehen?"
Zuerst ein paar vereinfachte Kunden-Grundtypen für den kleinen Vorurteils-Anfänger:
- Geschlecht egal, Alter egal, Klassik-Gitarrentasche auf dem Rücken -> die D-Saite ist gerissen. Entweder wünscht er die einzelne Saite oder einen ganzen Satz. Ich muss sie allerdings auch aufziehen.
- ganze Familie (Vater, Mutter + X Kinder) -> für das älteste Kind wird ein Anfängerinstrument gesucht. Vater bezahlt mit EC-Karte. ( Ab 7 Jahren: Junge - Gitarre / Mädchen - Geige. Jünger: Blockflöte)
(- Mutter mit einem Kind -> Das Kind ist mindestens das zweitgeborene. Mutti hat das Geld in Bar bei sich... sonst s. O.! )
Abgesehen von diesen Sonderfällen ist das Alter meist ein gutes Indiz:
(Kinder und Teenager ohne Eltern, sind nur von Vorurteils-Fortgeschrittenen und -Profis einzuschätzen!)
- weiblich, zwischen 20 und 30, sportlich -> sucht ne Alt-Blockflöte, Klassik-Gitarre, vielleicht sogar ne Geige oder, ganz selten, ne Querflöte, jedenfalls für Anfänger
- männlich, zwischen 20 und 30, sportlich -> sucht ne Anfänger-Western-Gitarre
( - Männlich, gleicher Typ mit langen Haaren -> E-Gitarren-Starter-Set)
- weiblich, zwischen 20 und 30, aber alternativer Öko-Typ -> sucht ein Cajon
- männlich, 20-30, gleicher Typ -> Didgeridoo, Rainmaker, Ethno-Percussion... was in der Art
- w, 30-40, geschminkt, gepflegter Typ -> Geigensaiten oder -zubehör. Seltener Gitarrensaiten (Nylon)
- m, 30-40, geschminkt, gepflegter Typ -> "Mamma Mia"-Musical-Songbook für Keyboard
- m, 30-40, weniger aufs Äußere bedacht -> Western-Gitarren zwischen 500,- und 1000,- Euro
- w, 30-40, weniger aufs Äußere bedacht -> Chor-Noten
- w, 40-50, sonst undefinierbar -> was "Verrücktes" (ich zitiere nur ) wie Djembe, Ukulele,... vielleicht sogar "mal 'ne Western?"
- m, 40-50, sonst undefinierbar -> Western-Gitarre von Martin
- m, 50-60, gepflegt und gut in Schuss -> wahrscheinlich Streicher, oft sogar Profi. Noten oder Zubehör für Geige, Bratsche, Cello. NICHT für Kontrabass!
- w, 50-60, gepflegt und gut in Schuss -> Chornoten (Mezzosopran oder Alt) oder Klaviernoten.
- m, 50-60, untersetzt und Bluthochdruck -> ne Westerngitarre ab 1000,- Euro
- w, 50-60, ähm... naja,... sehr stark geschminkt -> Noten für Querflöte, Klarinette, Bratsche oder Cello
- w, über 60, körperlich fit -> Gospelchornoten oder Klangschalen
- m, über 60, körperlich fit -> Akkordeon (je nach Herkunft Hohner, Weltmeister oder ein Italienisches)
- w, über 60, körperlich nicht mehr so fit -> was für's Enkelchen... Windspiele, Glockenspiele, Rasseleier, Klanghölzer, generell jeder Orff-Kram, pentatonische Flöten, etc... Aber bitte nur aus Holz! ...oder Gospelchornoten.
- m, über 60, körperlich nicht mehr so fit -> Mundharmonika ("Echo-Harp" oder "unsere Lieblinge")
Es ist natürlich absolut unfair, ab 60 schon den Vorurteilsschlussstrich zu ziehen, aber leider ändert sich darüber tatsächlich nicht mehr viel am Kundenwunsch. Und überhaupt geht es hier ja nur um "Vorurteile", also darf ich da auch alle über 60 einfach mal platt als Altsäcke diffamieren! . Die Realität sieht natürlich viel differenzierter aus, aber als kleine Einführung in die Kunden-Vorurteilskunde, taugen die Beispiele leider schon irgendwie...
Einen mächtigen Altersschritt gibt es dann aber doch noch: Wenn es einzelne Menschen über 90 noch mal aus eigener Kraft bis in unseren Laden schafften, dann gehörten gerade DIE zu den interessantesten, spassigsten, homorvollsten und einfach angenehmsten Kunden, die ich bisher kennenlernen durfte.
Wie die Jüngsten sind die aber nur was für den Fortgeschrittenen oder gar Vorurteilsprofi.