17:00 Uhr
Ein trüber Samstagnachmittag im Oktober. München, äußerer Innenstadtbereich. Es nieselt. Gestern Abend war es irgendwie spät, ich bin müde und frage mich, warum ich mir das eigentlich immer noch antue mit dem Musikmachen. Suche im Einbahnstraßengewirr den Auftrittsort.
17:30 Uhr
Finde den Laden in Form einer winzigen Boazn (= Eckkneipe). Auf drei Besucher kommt gefühlt ein Flachbildschirm auf dem SKY Übertragungen laufen. Mit zehn Leuten scheint die Kneipe bereits gut gefüllt. Es richt nach abgestandenem Tropfbier und kaltem Rauch. Der Inhaber zeigt uns die Bühne – für vier Mann knappe drei qm. Eher zwei. Gut, dass ich auf alles vorbereitet bin und ein mini-Schlagzeug dabei habe. Doch auch das passt nur mit maximalem Gebastel in die Ecke und keiner darf sich all zu sehr bewegen, sonst passiert ein Unglück. Aber große Freude, die Mitmusiker zu sehen. An der Theke: Ein bärtiger, tätowierter, äußerst gefährlich aussehender, schon ordentlich angetrunkener Hühne, der mit seiner Stimme den ganzen Laden beschallt. Haltung: „Ich hab hier verdammt nochmal Spaß und wenn’s wen stört, kann er gerne herkommen.“ Noch beim Aufbau in unsere Richtung „Spielts jo wos gscheids sonst kennts glei wiada oapacka.“ Oder so ähnlich.
18:00 Uhr
Beginn Parkplatzsuche.
19:00 Uhr
Ende Parkplatzsuche. Nach 10 min. vergeblichen Versuchen, zu Fuß eine 6-spurige Straße zu überqueren, auf der die Porsche Cayennes gefährlich über Tempolimit vorbei schießen, einen Umweg zurück zum Club gemacht, der mich praktisch an meiner Wohnungstür vorbei führt. Nass, kalt, Hunger.
19:30 Uhr
Der Bassist merkt gegenüber dem Wirt an, es sei zugesichert wurden, es gäbe vor dem Gig (der immerhin von 20:00 Uhr – 24:00 Uhr dauern wird – ist ein Kneipenfestival) was zu essen. Der, überrascht, bietet sofort an, etwas zu bestellen. Wir einigen uns auf eine große Pizza für alle vier und hoffen.
20:00 Uhr
Der Laden platzt aus allen Nähten. Unser bärtiger Freund von der Theke ist lauter, als der ganze Rest zusammen. Aber viele Leute scheinen neu, quetschen sich irgenwie rein und sind gespannt. Und, ohne Quatsch: Wir spielen super zusammen, es läuft, die Musik fließt, die Abläufe klappen und zumindest wir haben Spaß. Und ein paar Leute, die nah genug dran stehen, um was zu hören, sichtlich auch. Nach zwei Nummern kommt unser bärtiger Freund mit einem Musikwunsch. Irgend ein Schlager. Er habe Eintritt bezahlt und wolle das jetzt hören. Das hätten wir doch wohl drauf. Es klingt nicht wirklich wie eine Frage… Unser Sänger schafft es schließlich, die Situation zu klären: „Das Ding singen wir am Ende zusammen, ok?“. Puh – Gnadenfrist.
21:00 Uhr
Wer dachte, es würden unmöglich noch mehr Leute in die winzige Kneipe passen, irrt. Dicke Wassertropfen laufen die Scheiben hinunter. Aufgelöst kommt der Wirt zu uns. Er habe die Pizza total vergessen. Aber er „lässt uns nicht im Stich“. Seine Mutter, so versichert er, sei eine SUPER Köchin, sie macht uns, was wir wollen. Gleich nach dem nächsten Set. Außerdem zieht er heldenhaft einen Hunderter aus der Tasche und drückt ihn dem Sänger in die Hand – hier, für Euch. Vermutlich weiß er nicht, dass er dem Festival noch eine Gage zahlen muss. Warum er nicht einfach JETZT die Pizza bestellt trauen wir uns ob dieser Charme-Offensive nicht mehr zu fragen.
21:15 Uhr
Zweites Set. Wir spielen wieder ziemlich wunderbar, aber eben auch eine ehr kunstvolle, ruhige Musik. Die ist stellenweise im Lärm der Leute kaum noch zu hören. Höhepunkt: Bei einem besonders getragenen Song stellt der Wirt wieder die Hintergrundmusik an, weil er denkt, das Set ist zu Ende. Es dröhnt die, den kompletten Abend andauernde, eine 5 Track Rotation aus Reggae Klassikern. Unser bärtiger Freund stellt sich vor uns, macht Luftgitarren-Bewegungen und singt lauthals und in lautmalerischem Pseudo-Englisch mit.
22:00 Uhr
Nach dem Set stehen wir etwas angefressen draußen. Eine ganze Reihe von Leuten versichert uns, sie seien noch nie hier gewesen, fänden die Musik wirklich wunderbar und erkundigen sich nach kommenden Terminen. Das tut gut.
Unser Wirt ist im Rausch. So viel Kundschaft hat er wohl sonst das ganze Jahr zusammen nicht. Irgendwann fragen sich zwei Gäste: „Was zum Teufel RIECHT denn hier so?“. Ein beißender Benzingeruch flutet das kleine, ohnehin schon stickige Lokal. Hinter der Theke füllt der Wirt aus einem großen, unbeschrifteten Plastikkanister Slivovic (Pflaumenbrand) in Glasflaschen um. Auf der verregneten Straße steht ein Schild: „Slivovic 1,50 €“.
22:15 Uhr
Drittes Set. Die Luft steht, schon vom Einatmen der giftigen Dämpfe wird einem ganz flau. Dann, nach zwei Nummern, Ansage vom Wirt: Slivovic für alle!!! Große Tabletts mit kleinen Plastikbechern der vermutlich in der serbischen Heimat hausgebrannten Substanz werden an die Gäste verteilt. Es riecht nach Tod und Verderben. Manche nippen dran, manche trauen sich und stürzen das Zeug auch runter. An uns geht der Kelch vorbei – auch besser so bei nüchternem Magen.
23:00 Uhr
Pause. Unser Wirt entschuldigt sich wegen des Essens. Einfach zu viel los. Aber er ruft JETZT seine Mutter an und die kocht uns noch was. Nein, das muss sein, keine Widerrede. Serbische Bohnensuppe. Für alle. Garantiert. Wieder hinter dem Tresen genehmigt er sich selbst einen von vielen, vielen Schlucken vom Selbstgebrannten.
Zehn Minuten später lauter Streit mit einem Stammgast: „Du bist ein Arschloch. Zwanzig Jahre Freundschaft und jetzt das. Raus. Sofort. Raus.“ Ein flaumbärtiger, molliger mitt-Zwanziger trottet traurig aus unserer Slivovic-Sauna in die regnerische, kalte Nacht und bleibt schwankend und stumm vor der Tür stehen.
Plötzlich baut sich unser bärtiger Freund vor mir auf und brüllt (!): „GRRRIECHE!“ „STIMMT’S? DU BISCH GRRRIIECHE!“, „ISCH WEISS DES, ISCH SEH DES, DU BISCH GRRIECHE, GELL?“
Ich (verdattert): „Ja, ja, ich bin Grieche“
Er: „ISCH HABS GEWUSST. DER ISCH GRRIECHE. GRRIECHE ISCH DER. HABTS GEHÖRT???“
23:15 Uhr
Letztes Set. Unser bärtiger Freund ist gegangen. Schwein gehabt. Es ist immer noch gut voll, aber nun sind wirklich vor allem die Leute übrig, die die Musik hören wollen. Es wird ein ziemlich wunderbares Set, zum ersten Mal an dem Abend kann man die Musik hören. Alles funktioniert, kommt an, musikalisch die Entschädigung für das Erlittene. Eine echte Wohltat, die Leute mögen es, Zugabe, Bekundungen, es sei super gewesen, Fragen nach den nächsten Gigs. Umarmungen. Schulterklopfen.
24:00 Uhr (Spielende)
Wirt (euphorisiert): „Jetzt spielts noch eine Runde, iss mir egal, ob die Polizei kommt. Ich zahl des. Aber jetzt gibt’s erstmal was zu Essen. Mein Schwager ist gleich da, der bringt noch die serbische Bohnensuppe, hat meine Mutter extra noch für Euch gekocht.“
Wir trauen uns nicht recht, mit dem Abbau anzufangen, um den Mann nicht zu enttäuschen. Gespielt haben wir aber eigentlich echt lang genug. Wir sind durch, kleben, stinken, haben so lange nichts gegessen, das wir schon keinen Hunger mehr haben. Schon gar nicht auf Balkanspezialitäten, die eine alte Frau wahrscheinlich mit Wut im Bauch für uns zwangs-zubereiten musste. Alle sehenen sich nach einer warmen Dusche und dem heimischen Sofa. Irgendwann fangen wir doch an, abzubauen.
Der vor Stunden auf Lebenszeit aus der Kneipe verbannte Stammgast hat sich wieder reingetraut und offensichlich mit dem Wirt wieder vertragen. Die beiden umarmen sich und trinken auf die neu belebte Freundschaft. Der Stammgast wirkt dabei unglaublich erleichtert.
1:00 Uhr
Die Instrumente sind verladen. Der Wirt versichert, gleich komme die Suppe. Wir sind im Eimer. Aber gleichzeitig zu höflich, das in einer Samstagnacht unter welchen Umständen auch immer Gekochte einer alten Dame zu verschmähen. Irgendwann kommt tatsächlich der Schwager mit einem in Handtücher eingewickelten Suppentopf und einem Laib Brot. Auf einem Stehtisch werden Stücke von Küchenrolle zu Servierten gefaltet und Teller aufgestellt.
Wir setzen uns, jeder nimmt einen Schöpfer Suppe. Wir probieren. Es schmeckt wunderbar. Eine leicht tomatige, süß-scharf-würzige, dicke Suppe mit weißen Bohnen und knoblauch-lastigen Wurstscheiben. Dazu ein ziemlich gutes Brot und kleine, sauscharfe Chillischoten. Und ein kaltes Bier. Wir essen zufrieden. Jeder nimmt sich nach, bis nichts mehr übrig ist.
Wir verabschieden uns und schwanken zum Auto. Der Wirt strahlt, umarmt uns und versichert, es war grandios.
Und: „Wir telefonieren!“
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